Digital Disruption

Wenn Krankenversicherer es nicht schaffen, den Fokus bei der Durchführung der sozialen Krankenversicherung von der Risikoselektion zur Risikoreduktion zu verschieben, werden sie in der Schweiz dieses Geschäftsfeld verlieren.

Die Trennlinie zwischen gesund und krank ist zunehmend diffus, das Behandlungsvolumen im Bereich der chronischen Krankheiten wird im Vergleich zu demjenigen im akuten Bereich viel stärker wachsen. Versicherer, die bei einem besseren Risikoausgleich zusammen mit Leistungserbringern, Medtech-, Pharma- und IT-Industrie Patientenkompetenz sowie Effizienz und Qualität der medizinischen Versorgung (96 Prozent der Prämien) durch Digitalisierung verbessern, werden einen Wettbewerbsvorteil haben. Sie werden als Gesundheits-Coach ihrer Kunden auch dann eine Zukunft haben, wenn sich die Finanzierung der medizinischen Versorgung radikal ändern wird, weil nicht mehr die medizinische Grundversorgung von der Gesundheitsförderung bis zur Rehabilitation versichert wird, sondern nur noch grosse Krankheitsrisiken.

Die EU hat gegenüber den USA zwei Wettbewerbsnachteile: weniger Risikokapital und einen innovationshemmenden Datenschutz. China ist mit seinem Gesellschafts- und Wirtschaftssystem jenseits westlicher Werte auf der Überholspur. Die Schweiz tut also gut daran, nicht einfach EU-Recht zu übernehmen, schon gar nicht mit einem überregulierenden Swiss Finish. Die Datenhoheit muss beim Bürger und die Datensicherheit weltweit Spitze sein.

Digitale Risiken sind offenbar egal

Die von Comparis jährlich durchgeführte Datenvertrauensstudie zeigt eine zeitstabile Vertrauenshierarchie. Um die 90 Prozent der Befragten vertrauen den Banken, dass diese ihre Daten sicher aufbewahren und nicht missbrauchen. Behörden sind mit über 70 Prozent auf Rang zwei und Versicherungen mit knapp 60 Prozent jedes Jahr auf Rang drei. Mit gut über 10 Prozent stehen die Social-Media- und mit unter 10 Prozent die Dating-Plattformen am Schluss der Vertrauenshierarchie. Ernüchternd ist, dass das Wissen über Sicherheit und Verwendung von Daten nur zum Teil das Verhalten im Internet beeinflusst. Viele Bürger kennen die Risiken und Gefahren, tun aber wenig, um diese zu minimieren bzw. zu vermeiden.

Daten gegen Prämienrabatt

Eine von Marketagent im Auftrag von Comparis im Februar 2019 durchgeführte repräsentative Befragung zeigt eine hohe Bereitschaft der Versicherten, Gesundheitsdaten ihrer Krankenkasse zur Verfügung zu stellen. 46 Prozent sind dagegen, 51 Prozent sind bereit, wenn sie belohnt werden oder wenn die Datenlieferung freiwillig ist. 3 Prozent wissen es nicht. 9 Prozent der Befragten liefern ihrem Krankenversicherer schon jetzt Gesundheits- bzw. Fitnessdaten über Ernährung, Sport, Schlaf etc. aus ihrem Smartphone oder Fitness-Tracker. Ab einer Belohnung von 50 Franken Prämienrabatt pro Monat ist die Datenlieferung mehrheitsfähig. Bei 5 Prozent reichen schon 10 Franken, 12 Prozent möchten mindestens 10 Franken und 19 Prozent mindestens 20 Franken.

Von Ernst & Young im Jahr 2017 erhobene Daten zeigen ebenfalls eine hohe Bereitschaft der Versicherten, Gesundheitsdaten digital zu sammeln und diese ihrer Krankenversicherung zur Verfügung zu stellen, wenn wirksame finanzielle und serviceorientierte Anreize geschaffen werden. 51 Prozent der Befragten zeichnen Daten auf. Ohne Gegenleistung sind nur 12 Prozent bereit, Gesundheitsdaten aufzuzeichnen. Mit einer Gegenleistung planen 43 Prozent eine Aufzeichnung. Von den derzeit aufgezeichneten Daten verzeichnen Schrittdaten mit 32 Prozent den grössten Anteil, gefolgt von Fitnessdaten (26 Prozent), Pulsdaten (12 Prozent) und Schlafrhythmus (8 Prozent).

Überregulierung ist der falsche Ansatz

Digitalisierung ist global. Intelligent im Interesse der Bürger und des Gemeinwohls regulieren, ist eine Kunst. Arbeitsmärkte zeigen, dass ein zu rigider Arbeitnehmerschutz mit hoher Arbeitslosigkeit korreliert. Das gilt auch für Finanzmarktregulierungen und den Datenschutz. Wer es mit dem Gemeinwohl zu gut meint und überreguliert, geht in der globalisierten Welt das Risiko ein, dass anderswo investiert wird und die eigenen Bürger die fremden Dienstleistungen trotz niedrigen Datenschutzstandards via Internet konsumieren.  Erfolgreiche Internetgiganten müssen dann mit dem Kartellrecht gebremst werden, wenn sie ihre marktbeherrschende Macht missbrauchen. Die EU-Wettbewerbsbehörde hat Google schon mehrfach gebüsst. Für die US-Wettbewerbshüter sind Massnahmen gegen den Missbrauch der Marktmacht von Facebook, Google, Amazon & Co. kein Tabu mehr. Die Genossenschaft Healthbank (www.healthbank.coop/) will sicherstellen, dass die Datenhoheit beim Bürger bleibt und dieser jederzeit entscheiden kann, welche Daten er wem und wofür zur Verfügung stellen will. Die seit 2018 operativ tätige Stiftung Swiss Entrepreneurs Foundation stellt Start-ups, welche die Digitalisierung vorantreiben, 500 Millionen Franken Risikokapital zur Verfügung. In welchem Ausmass dies die Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft beflügeln wird, ist offen.

Das elektronische Patientendossier (EPD) wird es schwer haben

Anstatt Erfolgsmodelle aus Estland oder Dänemark zu adaptieren, hat man in der Schweiz das Rad mit Verspätung neu erfunden. Im kommenden Frühling müssen Spitäler und Pflegeheime ihren Patienten ein ePD anbieten, wenn diese eines wünschen. Erst jetzt ist das Parlament aber daran die gesetzlichen Bestimmungen für die elektronische Identität (eID bzw. E-ID) zu schaffen. Weil der Bund diese nicht selber herausgibt, ist das Referendum so gut wie sicher. Wir werden also im Frühling keine eID haben. Und ohne elektronische Identifikation der Patienten und Gesundheitsfachleute kann das EPD nicht starten. Eine weitere Herausforderung ist eine fehlende Datenstruktur. Ohne strukturierte Datenablage ist der effiziente Informationsaustausch zwischen Gesundheitsfachleuten eine Illusion. Die Zukunft bleibt spannend.

 

Leiter Politik und Kommunikation des Verbandes der Schweizer Krankenversicherer santésuisse und ist seit 2011 Leiter Public Affairs sowie Krankenversicherungsexperte beim Internetvergleichsdienst comparis.ch in Zürich.

Felix Schneuwly

lic. phil I/Executive MBA, studierte an der Uni Freiburg Psychologie und Journalistik, war Leiter Politik und Kommunikation des Verbandes der Schweizer Krankenversicherer santésuisse und ist seit 2011 Leiter Public Affairs sowie Krankenversicherungsexperte beim Internetvergleichsdienst comparis.ch in Zürich.