Sanitas verhindert Heilung eines Hepatitis C​-​Patienten

Hepatitis C kann geheilt werden – ausser Sie sind bei der falschen Krankenkasse.

«Ich fühle mich ohnmächtig, bevormundet. Das habe ich so noch nie erlebt.» PD Dr. med. Anna Conen ist aufgebracht. Denn die Krankenkasse Sanitas verweigert einem ihrer Patienten eine Therapie mit fast 100%-iger Heilungschance. Anna Conen ist leitende Ärztin und Chefarzt-Stellvertreterin Infektiologie und Spitalhygiene am Kantonsspital Aarau. Ihr Patient Paul Müller (Name von der Redaktion geändert) ist mit dem Hepatitis C-Virus infiziert.

Müller hatte Pech: eine erste Therapie, die in 98% aller Fälle zu einer kompletten Heilung führt, funktionierte bei ihm nicht. Das Virus konnte weiter nachgewiesen werden. Inzwischen gibt es für solch seltene Fälle eine Folgetherapie, die in 99% aller Behandlungen das Virus endgültig vernichtet. Nur ist diese Therapie in der Schweiz zwar zugelassen, muss jedoch von den Krankenkassen nicht vergütet werden. Insbesondere in der Onkologie kommt es oft vor, dass ein Medikament vom Arzt für eine Behandlung vorgeschlagen wird, das nicht auf der Spezialitätenliste des Bundesamtes für Gesundheit steht und somit von den Krankenkassen auch nicht obligatorisch bezahlt werden muss. In solchen Fällen können Ärzte eine spezielle Kostengutsprache beantragen, müssen das Gesuch begründen. Die Krankenkassen prüfen solche Gesuche über ihre Vertrauensärzte und entscheiden dann, ob und wieviel der Kosten sie übernehmen. Während bei Tumorpatienten solche Sonderfälle von den Kassen in den meisten Fällen durchgewinkt werden, lief Conen mit ihrem HCV-Patienten Müller auf: «Ich habe Gesuche und Wiedererwägungsanträge gestellt, alles wissenschaftlich fundiert, mit Literatur hinterlegt. Denn das beantragte Medikament ist das einzige, das für meinen Patienten momentan zur Verfügung steht. Aber ich erhielt jedes Mal eine Absage, die wissenschaftlich nicht begründet war, copy & paste denselben Text. Mit dem Vertrauensarzt telefonisch zu sprechen war auch nicht möglich. Sanitas überliess meinen Patienten dem Schicksal.»

30 Jahre gefixt, vier Lungenentzündungen, HIV-positiv, HCV-positiv

Paul Müller sitzt ruhig am Tisch in einem Lokal in Zürich-Oerlikon. Die Kaffeetasse verschwindet fast zwischen seinen furchigen Arbeiterhänden. Müller ist ein «Chrampfer», hat sein Leben lang geschuftet und tut es noch. Vor allem aber ist Müller schon fast ein medizinisches Wunder: «Ich habe 30 Jahre lang gefixt – neben meiner Arbeit, hatte vier Lungenentzündungen. Vor 10 Jahren wurde festgestellt, dass ich HIV-positiv bin. Und im selben Jahr wurde dann auch HCV diagnostiziert. Beides habe ich in der Zürcher Fixerszene aufgelesen, nachdem die Zürcher Regierung entschieden hatte, den Drogensüchtigen keine frischen Spritzen mehr zur Verfügung zu stellen. Da haben manchmal 20 von uns dieselbe Spritze verwendet.»

» Vor drei Jahren entschied der gelernte Mechaniker, mit dem Fixen aufzuhören. Und schaffte tatsächlich den Ausstieg. Dr. Conen bestätigt: «Er ist unglaublich diszipliniert, hat das Methadonprogramm inzwischen beendet und ist clean.»

Nach der Diagnose HIV war Müller ein halbes Jahr lang geschockt: «Ich lief wie durch einen schwarzen Tunnel, erinnerte mich an ehemalige Kollegen, die an AIDS gestorben sind, und glaubte, dass ich auch sterben werde.» Heute hat Müller dank einer modernen medikamentösen Therapie seine HIV-Infektion unter Kontrolle. Diese Therapiekosten müssen von der Sanitas übernommen werden, denn das Medikament steht auf der Spezialitätenliste. Lange konnte er sich nicht vorstellen, dass HCV für ihn gefährlicher werden könnte als HIV. Heute stellt er aber resigniert fest: «HIV ist unter Kontrolle. Aber bei meiner Hepatitis C-Infektion stellt sich Sanitas quer und wird die heilbringende Therapie wohl erst bezahlen, wenn ich fast tot bin.» Und Müller weiss: «Mit meiner Therapie kann ich das HI-Virus nicht mehr übertragen, bin also für niemanden eine Gefahr. Aber HCV kann ich übertragen, zum Beispiel wenn ich mich bei der Arbeit verletze.»

Die Leber ist noch zu wenig geschädigt

So gesehen hat Müller nochmals Pech: Er ist noch zu wenig krank. Seine Leberwerte sind noch nicht dermassen kritisch, dass sein Leben unmittelbar gefährdet ist. Genau das ist auch die Begründung der Sanitas-Vertrauensärzte, warum die Kasse die mögliche Folgetherapie nicht bezahlt. Wer einen Blick auf die Website der Sanitas-Website wirft, dem kommen die vollmundigen Versprechen mit Blick auf das Schicksal von Paul Müller wie Hohn vor: «Sie wünschen sich eine Krankenkasse, auf die Sie sich verlassen können, Versicherungslösungen, die Ihren Bedürfnissen entsprechen, und einen überzeugenden Service? Dann sind Sie bei Sanitas richtig.» steht auf der Homepage zuoberst.

Dass Sanitas die Bedürfnisse von HCV-Patienten egal sind, kann Daniel Horowitz bestätigen. Der Präsident der Schweizerischen Hepatitis C Vereinigung (SHCV) kämpft seit bald zwei Jahren dafür, dass alle Krankenkassen in der Schweiz die einzig verfügbare Folgetherapie bezahlen, wenn die Erstbehandlung nicht funktioniert. Mit allen Kassen konnten inzwischen Lösungen für diese seltenen Fälle gefunden werden. Ausser mit Sanitas. Horowitz ist frustriert: «Sämtliche Gespräche sind im Sand verlaufen. Sanitas spielt auf Zeit, verweigert den Dialog. Das Schicksal der HCV-Patienten ist dieser Krankenkasse egal. Denn Paul Müller ist kein Einzelfall.»

Flyer der Patientenorganisation als Lebensretter

Reto Hubschmid (Name von der Redaktion geändert), ebenfalls bei Sanitas versichert, hatte mehr Glück als sein Leidensgenosse Müller: Auch bei ihm funktionierte die Ersttherapie nach der Diagnose HCV nicht. Auch sein Arzt stellte das Gesuch für die Zweittherapie, die in nahezu 100% aller Fälle eine Heilung bringt. Und auch hier wurde das Gesuch abgelehnt. Hubschmid wurde von Ärzten am Kantonsspital Luzern betreut. Sein Fall wurde sogar am Hepatologieboard zusammen mit einem renommierten Professor des UniversitätsSpitals Zürich besprochen. Vier Gesuche und Wiedererwägungsanträge wurden eingereicht. Sanitas lehnte alle ab. Hubschmid erinnert sich: «Ich war völlig frustriert. Zufälligerweise sah ich im Wartezimmer meines Hausarztes einen Flyer der SHCV-Patientenorganisation. Und die hat mir dann geholfen.» Tatsächlich konnte die SHCV das Geld für die Therapie auftreiben und so die Zweitbehandlung von Reto Hubschmid bezahlen. Die Therapie war erfolgreich, das Hepatitis C-Virus ist weg. «Das war ein Supergefühl, denn ich lebte bis zu dem Zeitpunkt mit der Angst, an HCV zu sterben oder eine Lebertransplantation durchmachen zu müssen.» Umso aufgebachter ist auch Hubschmied bezüglich dem Verhalten der Sanitas:« Ich bezahle seit über 40 Jahren meine Krankenkassenprämien, bezahle heute 600 Franken im Monat für Grund- und Zusatzversicherung, alles bei Sanitas. Es ist eine Schweinerei, dass die diese Folgebehandlung nicht bezahlen wollen.»

 Alle 40 Stunden stirbt in der Schweiz ein Mensch an HCV

Dank wirksamen Medikamenten, umfassenden Informations- und Präventionskampagnen sterben heute in der Schweiz jährlich immer weniger Menschen an AIDS. Die Schweiz hat diesbezüglich international eine Vorreiterrolle inne. Noch immer gibt der Bund jedes Jahr siebenstellige Summen für Kampagnen aus. 2017 betrug das Budget 2,1 Mio. Franken.

Heute sterben jedoch in der Schweiz fünfmal mehr Menschen an Hepatitis C als an HIV, alle 40 Stunden stirbt ein Mensch an HCV. Informationskampagnen und Unterstützung für Betroffene? Kulante Lösungen für seltene Fälle, bei denen die Ersttherapie nicht funktioniert? Auflagen an die Krankenkassen, die HCV-Heilung zu fördern und nicht zu warten, bis Betroffene todkrank sind, eine kaputte Leber haben? Alles Fehlanzeige.

«Der Rückhalt in der Gesellschaft und in der Politik fehlt. Hepatitis C-Patienten haben eine schlechte oder gar keine Lobby», ist Dr. Anna Conen überzeugt. Dies ist auch nicht erstaunlich. HCV-Patienten haben oft einen Hintergrund mit Drogen, viele haben gefixt. Wer – unter Umständen Jahrzehnte später – erfährt, dass er HCV-infiziert ist und geheilt wird, wird kaum darüber sprechen. Wer mit seiner Krankheit lebt, wird auch nicht über seine Vergangenheit sprechen wollen. Und: Leberzirrhose ist «nur» verantwortlich für 0,3% aller direkten Gesundheitskosten, macht keine 200 Mio. Franken der rund 64 Mrd. Gesamtkosten aus (Quelle Simon Wieser, ZHAW, Bericht in der SonntagsZeitung vom 08.04.2018).

Gesundheitsökonomischer Unsinn

Wenn eine Krankenkasse einem HCV-Patienten eine erfolgsversprechende Therapie verweigert, begeht sie faktisch einen gesundheitsökonomischen Unsinn und muss sich dem Vorwurf stellen, ihre Treuhandpflicht gegenüber den Prämienzahlern zu verletzen. Die Kosten für die Folgetherapie, die Paul Müller benötigt, belaufen sich auf rund 60‘000 Franken. Die Therapie dauert zwölf Wochen. Heilungswahrscheinlichkeit: 99%. Eine Lebertransplantation samt Folgekosten kostet mehrere 100‘000 Franken. Die Überlebensrate nach 5 Jahren beträgt bei HCV-Patienten 70%.

Erst im März dieses Jahres wurden die neusten Richtlinien des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) für den Umgang mit Hepatitis C bei Drogenkonsumierenden publiziert. Darin attestiert das BAG, dass in den Kantonen Behandlungslücken bestehen. Mängel im Informationsstand bei Hausärzten was neue Medikamente angeht, sollen geschlossen werden. In den Richtlinien wird insbesondere festgehalten, dass eine Hepatitis-C-Therapie bei allen Betroffenen angestrebt werden soll. Unabhängig vom Fibrosegrad. Je höher der Fibrosegrad (Endstadium ist die Leberzirrhose), desto schwerer ist die Leber des Patienten bereits geschädigt.

Wir haben die Sanitas-Krankenkasse mit den beiden Fällen konfrontiert. Tatsächlich bestätigte uns der Sanitas-Mediensprecher: « Wir haben intern die Fallbeurteilungen von HCV-Folgetherapien einem Review unterzogen und untersucht, ob die Beurteilung korrekt abgelaufen sind. Darin waren der CEO, der Geschäftsbereichsleiter Leistungen & Kundenberatung und auch der Vertrauensärztliche Dienst involviert.» Die Beurteilungspraxis orientiere sich an den gesetzlichen Rahmenbedingungen und den BAG-Richtlinien. Fazit: «Wir kommen zum Schluss, dass die Beurteilungen der im Bericht erwähnten HCV-Fälle korrekt und rechtmässig waren», schreibt Sanitas-Mediensprecher Kuhn in seinem Antwortmail.

99% Heilungsrate sind für Sanitas nicht ausreichend

Dem Healthy Ageing Forum Schweiz liegt die Korrespondenz zwischen Klinik und Patient in beiden Fällen vor: Sanitas begründet die Ablehnung unter anderem damit, dass «kein grosser therapeutischer Nutzen erwartet werden kann.» Ausführlich begründete Wiedererwägungsgesuche lehnte die Sanitas erneut ab mit der Begründung, die Kriterien für eine Kostengutsprache seien nicht erfüllt. So könne z.B. der gesetzlich geforderte grosse Nutzen nicht prospektiv erwartet werden. Reto Hubschmied war nach der zwölfwöchigen Therapie geheilt. Dank einem Medikament, das gemäss Studien und auch Anwendung in der Praxis in 99 Prozent der Behandlungen zur kompletten Heilung führt. Für die Sanitas ist das aber nicht ausreichend. Weder im Mai 2018 noch ein Jahr später. Und auch nicht bei HCV-Patient Müller, der aufgrund seiner Vorgeschichte und der aktualisierten BAG-Richtlinien sowieso behandelt werden müsste.

Korrespondenz Sanitas Mai 18 Ablehnung Medikament

Korrespondenz Sanitas Mai 18 Ablehnung Therapie

Niederschmetternd ist letztlich auch der Hinweis von Sanitas-Mediensprecher Christian Kuhn, dass die Aufnahme der Therapie in die Spezialitätenliste die Lage vereinfachen würde. Süffisant hält er fest: «Es ist anzunehmen, dass sich die Zulassungsinhaberin und das BAG bezüglich der Wirksamkeit, der Zweckmässigkeit und der Wirtschaftlichkeit der Therapie nicht einig sind.» Und – so Kuhn weiter – es bestehe ja für Patienten auch die Möglichkeit, dass die Zulassungsinhaberin die Therapie zur Verfügung stelle.

Paul Müller ist machtlos. Und fühlt sich auch machtlos. Er arbeitet nach wie vor jeden Tag neun Stunden, lebt allein. Seine betagten Eltern wissen nichts von seiner Krankengeschichte. Er hat keine Freunde. Und wartet, dass vielleicht doch noch ein Wunder geschieht, die Sanitas zur Vernunft kommt. Seine Ärztin, Dr. Anna Conen gibt die Hoffnung noch nicht auf: «Paul Müller hat alles getan, was er tun konnte. Dass ihm nun ausgerechnet die Krankenkasse eine Heilung verhindert, darf nicht sein. Ich wünsche mir, dass der Druck auf Sanitas so gross wird, dass sie endlich einlenkt.»

Nach den Antworten der Krankenkasse besteht leider wenig Hoffnung, dass Sanitas ihre Haltung überdenkt. Sie überlässt Paul Müller seinem Schicksal.

 

Max Winiger

Max Winiger ist Kommunikationsberater SW und Mitbegründer des Healthy Ageing Forums Schweiz. Davor war er unter anderem Mitarbeiter von SonntagsBlick, SonntagsZeitung, Bilanz, Weltwoche und Radio DRS sowie Mitglied der Chefredaktion der zweisprachigen Wochenzeitung Biel-Bienne. Er lebt in Zürich.