Wir werden immer älter: diese an sich erfreuliche Entwicklung zwingt uns, die heutigen Strukturen unserer Gesellschaft in Frage zu stellen. Jugendarbeitslosigkeit können wir uns genau so wenig leisten, wie Stellenabbau für über 50jährige. Eine flexible Pensionierung mag für die einen attraktiv sein, andere sind nach bis zu einem halben Jahrhundert Arbeiten schlicht erschöpft und pochen auf den verdienten Ruhestand. Vier Menschen im Gespräch – über Herausforderungen, Probleme und Lösungsansätze rund um die Alterung unserer Gesellschaft.
HFS: Müssten ältere Menschen heute länger arbeiten? Besteht nicht auch ein Recht, sich auf die Pensionierung zu freuen und dann einfach nichts mehr zu tun?
Monique Siegel: Wenn man ab einem gewissen Alter nichts mehr tut, nichts mehr lernt, dann «rostet» man. Entscheidend ist, dass man auf diesen Moment hinarbeitet und keinen abrupten Unterbruch hat. Ich nehme auch der Wirtschaft übel, dass sie immer noch mit festen Pensionierungsaltern arbeitet und dass wir das Gefühl haben, mit 65 Jahren ist dieser Teil vom Leben vorbei. Das hat sich doch alles verschoben.
Heiner Hug: Ich wurde mit 62 Jahren pensioniert, aber das wusste ich schon 17 Jahre früher, als ich ins Kader eintrat. Damals galt diese Regelung bei uns, weil man Platz für Jüngere schaffen wollte. In der Zwischenzeit hat sich das geändert. Heute kleben die Alten teilweise an ihren Jobs, und es wäre manchmal gut, wenn es diese Altersguillotine wieder geben würde. Ich habe mich eigentlich auf diesen Tag gefreut denn ich wusste, dass es weitergeht. Und ich wollte auch mit Jungen weiterarbeiten. Die haben Ideen, auf die ich einfach nicht kommen würde. Die Begeisterung der Jungen sollte man fördern.
Rosanne Kühn: Ich erlebe in meinem Umfeld, dass wir Jungen auf ältere Menschen angewiesen sind, die etwas über einen längeren Zeitpunkt beobachten können. Umgekehrt sind die Älteren auch auf uns Junge angewiesen wegen des technischen Fortschritts und weil heute Vieles oft sehr schnell gehen muss. Auch in den Wissenschaften ist dieser Ausgleich sicher wichtig. Ich mache mir keine Sorgen wie wir Jungen die Gesellschaft in Zukunft stützen können sondern finde eher, dass wir voneinander profitieren. Mich belastet das nicht. Die Leute werden ja nicht nur immer älter, sondern bleiben auch immer länger gesund.
HFS: Ist es nicht so, dass verpackt in schöne Szenarien letztlich versucht wird, die ältere Generation möglichst lange im Arbeitsprozess zu halten, die Jungen möglichst früh in den Arbeitsprozess zu bringen? Alle reden von Healthy Ageing. Aber eigentlich geht der Trend doch in Richtung Stressy Ageing.
Siegel: Wir haben eine Luxusgesellschaft in der man es sich erlauben kann, sich mit 62 zu pensionieren und dann noch so viel Energie hat, etwas Neues zu beginnen. Aber dieser Zustand ist organisch gewachsen. Niemand schreibt Ihnen heute vor, was Sie nach Ihrer Pensionierung zu tun haben. Das hat auch etwas Philosophisches. Man möchte ja vielleicht sein gesammeltes Wissen weitergeben. Vielleicht sogar gratis. Die Bereitschaft für Freiwilligenarbeit hat bei diesen Menschen enorm zugenommen. Dazu kommt, dass sich die Lebensabschnitte grundlegend verändern werden. Mit 70 wird man vielleicht nochmals heiraten, wird sich neu einrichten. In Zukunft haben wir keine ‚Stöcklimentalität’ mehr.
Katharina Jauch: Die ganze Kosmetikbranche hat sich bezüglich Anti Ageing verändert. Vor 35 Jahren gingen Frauen noch zur Kosmetikerin, um sich zu verwöhnen, sich etwas Angenehmes zu gönnen. Heute gehen die Leute zum Verwöhnen eine Woche in Wellnessferien. Zur Kosmetikerin gehen sie, um die Falten wegzubringen, strahlend auszusehen. Es geht nur noch um die Fassade.»
Siegel: Wir stehen vor einigen Trümmerhaufen. Wie kann sich zum Beispiel eine Gesellschaft Jugendarbeitslosigkeit leisten? Diese jungen Arbeitslosen können keine Familie gründen. Wir verlieren eine ganze Generation, welcher der Lebensnerv abgeschnitten worden ist. Das haben wir zugelassen. Jetzt müssen wir anfangen, neu zu denken. Es ist keine Sekunde zu spät. Ich traue der Gesellschaft aber zu, dass sie lernen wird, mit weniger auszukommen, sich zu beschränken.
Hug: Unsere Generation ist sicher die, der es am besten geht. Der vorherigen ging es wahrscheinlich noch nicht so gut und der danach wird es nicht mehr so gut gehen. Die demografische Entwicklung zwingt uns, das heutige System zu überdenken. Auch ich bin zuversichtlich, dass uns dies gelingen wird.
Was zudem oft vergessen wird: die ältere Generation trägt wesentlich dazu bei, dass unsere Gesellschaft überhaupt funktioniert. Ohne sie wäre die Hälfte der Restaurants leer, ein Opernhaus in Zürich Konkurs, viele Läden geschlossen. Ich bin dagegen, dass die Alten sich bei den Jungen bedanken müssen. Umgekehrt könnten sich die Jungen bei den Alten bedanken, dass die überhaupt Geld ausgeben, konsumieren und dadurch auch Arbeitsplätze ermöglichen.
HFS: Sind die Herausforderungen der demografischen Entwicklung überhaupt ein akutes Thema oder wird da etwas aufgebauscht, was vielleicht in 20 oder 30 Jahren allenfalls zu einem Problem werden kann?
Jauch: Ich habe während der Stellensuche beim Besuchsdienst der Pro Senectute für Freiwilligeneinsätze gemeldet, denn ich finde es auch wichtig, dass man sich in seiner Wohngemeinde engagiert. Für den Besuchsdienst
können sich ältere – meist betagte – Menschen melden, die sich allein fühlen. Freiwillige besuchen sie dann daheim oder auch im Alters- oder Pflegeheim, gehen mit ihnen einkaufen oder verbringen einen Teil der Freizeit mit ihnen. Da habe ich gelernt, dass allein in meiner Wohngemeinde viele ältere Menschen allein sind und soziale Unterstützung benötigen. Teilweise reicht ja die AHV nicht einmal, um die Wohnungsmiete zu bezahlen. Für viele ist auch das Altersheim nicht finanzierbar. Ich habe Bekannte, die selber noch arbeiten, deren Eltern aber Unterstützung brauchen weil das Gesparte nicht ausreicht, um ein Altersheim zu finanzieren. Die fragen sich dann, ob sie ihre Stelle künden sollen, um die Eltern zu pflegen. Die Herausforderungen der Entwicklung sind schon da.
Hug: Das ist sehr wichtiger Punkt. Wir reden immer von den vermögenden Alten. Es gibt aber sehr viele alte Menschen in der Schweiz, die kein grosses Vermögen haben und sich nichts mehr leisten können, auf Unterstützung angewiesen sind. Ein Phänomen dieser Entwicklung ist zum Beispiel, dass sich die Stadtzentren entleeren. Die Alten verschwinden, weil sie sich das Leben dort nicht mehr leisten können. Die werden an den Stadtrand verdrängt.
Kühn: Ich denke, dass wir Jungen teilweise in einer Illusion leben und glauben, dass wir schon mit 30 so reich sind wie unsere Eltern. Im Alter kein Geld mehr zu haben, daran denken wir überhaupt nicht. Heute verschulden sich ja schon viele junge Menschen und denken, dass sie das dann locker alles zurückzahlen können.
HFS: Die Gesundheitskosten sind ein Dauerthema in den Medien und bei Politikern. Dabei hat die Schweiz – kaum grösser als das deutsche Bundesland Baden-Württemberg mit über 10 Mio. Einwohnern – 26 kantonale Gesundheitsdirektionen und 289 Spitälern und Kliniken. Können wir uns das noch leisten?
Hug: Ich persönlich finde unser Gesundheitssystem toll und finde es ein Privileg, dass wir uns das leisten können. Das kostet natürlich. Aber ich finde es schön, dass in unserem Land das Alter bezüglich Anrecht auf medizinische Leistungen an sich keine Frage ist.
Kühn: Ich finde auch, dass man keinesfalls bei älteren Menschen sparen sollte. Diskutieren könnte man allenfalls über die pränatale Forschung. Will man da wirklich noch weiterforschen und Einfluss auf die Natur nehmen?
Jauch: Ein wichtiges Thema ist die Patientenverfügung. Viele betagte Menschen haben keine und sind oft auch überfordert, weil alles so kompliziert ist. Mit einer besseren Aufklärung und mehr Informationen könnten hier vielleicht auch Bedürfnisse besser abgeklärt und unter Umständen an sich gar nicht mehr erwünschte Behandlungen verhindert werden.
Siegel: Ich denke, wir haben zwei Möglichkeiten. Entweder hören wir auf, uns über die Höhe der Krankenkassenprämien zu nerven und anerkennen, dass wir eines der besten Gesundheitssysteme der Welt haben, das nächste Spital sozusagen gleich um die Ecke liegt und sind bereit, dieses Angebot auch zu bezahlen. Oder aber wir übernehmen mehr Eigenverantwortung und akzeptieren, dass nicht mehr alles verfügbar ist.
Hug: Wir reden immer nur über die Kosten. Aber unser Gesundheitswesen ist auch einer der grössten Arbeitgeber im Land und generiert eine enorme Wertschöpfung.
HFS: Was empfehlen Sie der Schweiz, um die Herausforderungen der alternden Gesellschaft zu meistern?
Kühn: Wieder vermehrt so leben wie früher, als die Jüngeren für die Älteren da waren, nicht nur mit Geld, sondern auch physisch. Und wir sollten Rahmenbedingungen schaffen die es älteren Menschen ermöglichen, sich auch über die Pensionierung hinaus einbringen zu können, solange sie die Kraft und Lust dazu haben.
Hug: Wir sollten nicht Alt gegen Jung ausspielen. Die Lasten sollten gleichmässig verteilt werden, damit nicht eine Generation für die andere bluten muss. Vermutlich müssen – fast – alle den Gürtel etwas enger schnallen und wir werden länger arbeiten müssen aber auch können. Es gibt keinen Grund, warum wir so früh in Pension gehen, wobei unser System auch erlauben sollte, dass Menschen mit körperlich anstrengenden Berufen auch früher pensioniert werden können und dennoch die volle Rente erhalten.
Jauch: Das Zusammenleben der Generationen fördern. Die Menschen treffen sich so aus den verschiedensten Lebensbereichen und Altersstufen. Freiwilligenarbeit ist ein weiteres Thema: etwas tun für andere und vielleicht eine Dankbarkeit erfahren, auch mal ohne Bezahlung. Heute haben viele Vereine grosse Mühe, noch genügend Leute zu finden, die sich einsetzen. Aber alle erwarten, dass der Verein funktioniert und wollen nur profitieren.
Siegel: Wir brauchen Mentalitätsveränderungen in fast jedem Bereich unseres Lebens. Besonders muss sich die Gesellschaft daran gewöhnen, dass es ältere Menschen gibt, die mit 70 nochmals durchstarten. Die Arbeitgeber müssen Möglichkeiten schaffen, die aktiven Älteren weiter zu beschäftigen, zusammen mit den Jungen.