Ihr sollt vorsorgen! Kapiert?

Langsam erkennen es auch die Letzten: Unser jahrzehntelang international gepriesenes Vorsorgesystem ist gerade dabei, sich zu verabschieden. Die Alternative heisst: selber vorsorgen. Logisch, oder?

Der Leerwohnungsbestand in der Stadt Zürich ist so tief wie seit 2013 nicht mehr. In Genf kostet ein 9m2-Zimmer in der Mansarde mit Dusche/WC im Gang für einen Studenten 1200 Franken im Monat. Die Krankenkassenprämien werden wohl auch nächstes Jahr wieder um ein paar Prozente ansteigen. Gespartes wirft keine Zinsen mehr ab. Wer sehr viel Geld hat, muss sogar noch Negativzinsen zahlen. Aber das ist ein Luxusproblem. In der beruflichen Vorsorge schmelzen die Umwandlungssätze wie die Gletscher. In wenigen Jahren kann ein Rentner froh sein, wenn er trotz fleissigem Sparen noch die Hälfte seines Erwerbslohns übrig hat. Inklusive AHV, die auch immer mehr in Schieflage gerät. Wehe er hat dann Wohneigentum und noch nicht mindestens 70% amortisiert. Vermutlich erleben wir es noch, dass die Einkommenssteuern für Rentner erhöht werden, weil die nicht mehr genug Einkommen versteuern.

Aber hey, es gibt eine einfache Lösung: vorsorgen. Ab mit dem Geld unter die Matratze. Viele tun es ja schon. Denn immerhin sind 80 Prozent aller Tausendernoten nicht im Handel, sondern liegen irgendwo im Trockenen. Überall poppen immer öfter ernstgemeinte Kommentare und Ratschläge auf: Sorget vor, liebe Bürgerinnen und Bürger. Denn Euer Staat ist unfähig, den Reichtum der Schweiz langfristig und intelligent zu verwalten, geschweige denn zu mehren. Wir erleben gerade ein systemisches Versagen der Schweiz als Sozialstaat. Auf so ziemlich allen Ebenen und Stufen. Was Escher et al. einmal unfassbar clever und nachhaltig erschaffen haben, erodiert zurzeit im politischen, egoistischen Kleinkrieg auf nationaler Ebene und im unnachgiebigen Kantönligeistkrampf.

Happy living!

Während der beste Finanzminister der Welt Jahr für Jahr überraschende Gewinne in der Bundesrechnung präsentiert, werden die Bürgerinnen und Bürger regelrecht demontiert und ausgenommen:

  • Gespartes bringt keine Zinsen mehr, die wenigstens die Teuerung kompensieren.
  • Die Wohnkosten steigen und steigen (natürlich vor allem dort, wo die Menschen leben wollen, nicht dort wo sie leben müssen, weil sie sich andernorts das Leben nicht mehr leisten können).
  • Die Pendlerströme und die damit verbundene verlorene Zeit (ist bekanntlich Geld) wachsen.
  • Die Pensionskassen investieren auf Teufel komm raus in Immobilien und sorgen dafür, dass die Immobilienpreise weiter steigen (was die Leute dann eben nicht mehr bezahlen können, siehe oben). Aber sie reduzieren dennoch laufend den Umwandlungssatz und jammern über mangelnde Rendite.
  • Die Banken leben noch von überrissenen Gebühren und sind ansonsten ein sterbendes Geschäftsmodell oder kümmern sich um die ganz Reichen. Ich meine mal unter uns: warum sollten Sie heute noch Geld auf die Bank bringen? Und haben Sie in letzter Zeit mal eine Bank um einen Geschäftskredit angefragt? Wie lautete die Antwort? Eben.
  • Die Gesundheitskosten (laut Umfragen Sorge Nummer Eins der Schweiz) steigen. Nein – sorry Urs P. Gasche und Mitstreiter – nicht primär wegen der Medikamentenpreise, sondern weil wir jedes Jahr Milliarden verpulvern, um unser krankes Kantönlisystem zu behüten.
  • Die Gesellschaft wird älter, die Pflegekosten steigen. Aber unser Gesundheitsminister (SP!) schiesst der Spitex in den Rücken und kürzt Pflegeleistungen, die das Leben zuhause ermöglichen, weil die Kantone über leerstehende Altersheime klagen. Ein Monat in einem Altersheim kostet irgendwas um die 4000 bis 6000 Franken. Pro Person. Out of pocket. Wieviel Erspartes haben Sie? Happy ageing!
  • Palliative Care für alle? Vergessen Sie’s.

Lustig ist immer wieder die Lektüre der Regionalzeitungen (die lesen sich zum Teil spannender als nationale Blätter mit ihren Newsdesk-Superredaktionen) im Frühling wenn Gemeinden mit grosser Freude berichten, dass sie einen Gewinn erzielt hätten. Grund: die unerwartet hohen Erträge aus der Grundstückgewinnsteuer.

Ein wunderschönes Indiz: Während rundherum alles zusammenbricht, worauf unser System basiert – auch die Finanzierungsstruktur über Steuern und Abgaben – kassieren Gemeinden, Kantone und Staat weiterhin eisern zu den gleichen Sätzen. Und der Bund macht jährlich Milliardengewinne. Die Nationalbank stützt den Frankenkurs (er ist mittlerweile auf 1.08 und ein paar Zerquetschte abgerutscht trotz Milliardeninterventionen gemäss SNB-Sichtgeld in den letzten Tagen) und befeuert mit ihren Negativzinsen die komplette Ausbeutung der Menschen in diesem Land. Export ist wichtiger. Tourismus auch. Falls es Luzerner unter den Lesern hat: sayonara.

Nationale Polizei-Infoplattform? Denkste.

Wie ein Fels in der Brandung steht derweil unser Föderalismus mit seinen 26 Burgen, genannt Kantone. Ich musste laut lachen als ich vor wenigen Tagen las, dass sich die meisten kantonalen Polizeibehörden per Mail und wöchentlichem Telefonrapport über interkantonale Fälle informieren. Eine nationale Plattform, um über die Kantonsgrenzen hinaus Kriminelle real-time verfolgen zu können? Ein gemeinsames System für die kleine Schweiz? Alles Fehlanzeige. Die Uni Lausanne hat nun offenbar ein sehr gutes System entwickelt, über das die fünf Westschweizer Kantone ihre polizeilichen Informationen koordinieren. In der Deutschschweiz haben erste Kantone auch beschlossen, etwas zu tun. Natürlich werden sie niemals das System aus Lausanne übernehmen. Hallo?

Jeder Kanton schaut primär für sich. Nationale Strategien? Tönt schön. Scheitert aber regelmässig an der kantonalen Umsetzung. Weil die haben bekanntlich kein Geld. Also einfach nie dann, wenn eine nationale Strategie umgesetzt werden sollte. Weil national, das sollen die anderen umsetzen. Gefälligst.

Wasser trinken? Geht auch nicht.

Aber eben: Alles kein Problem. Denn wir können ja einfach vorsorgen. Zum Beispiel einen Tag nur Wasser trinken (oops, geht nicht: das soll ja durch krebserregende Pestizide verseucht sein, die der Bund erlaubt, weil sonst die Bauern ihre Erträge nicht mehr haben und noch mehr subventioniert werden müssen), für die Ferien in der Schweiz bleiben (wir fliegen ja sowieso zuviel), Auto verkaufen (Auto?), einfach weniger konsumieren und noch mehr online einkaufen.

Also den Konsum (soviel ich weiss Wirtschaftsmotor Nummer Eins) reduzieren und mehr sparen. Ohne Zinsen. Aber Hauptsache sparen. Aber Achtung: nicht vergessen, das Gesparte dann bei der nächsten Steuerrechnung auch sauber anzugeben. Gell.

Die Schweiz ist eine Gemeinde

Es gäbe freilich noch eine andere Form der Vorsorge: endlich mal all die Politikerinnen und Politiker in die Wüste schicken, die noch immer nicht begriffen haben, dass mit Argumenten und Haltungen von vorgestern, weder das Heute bewahrt, geschweige denn das Morgen gestaltet werden kann. Was sollen die ganzen Parteiparolen wenn letztlich doch SP mit SVP, FDP mit den Grünen (Klima!) und CVP mit jedem Pakete schnürt, um kurzsichtig «Erfolge» zu feiern.

Lustigerweise sind es die Gemeinden die vorleben, wie und dass es funktionieren kann. Denn in einer Gemeinde geht es um die Sache. Hier leben die Menschen und raufen sich zusammen. Fehlentscheide werden rasch sichtbar. Zukunftsweisende Lösungen zahlen sich rasch aus. Die Schweiz ist auch eine Gemeinde, liebe Ständerätinnen und Ständeräte. Und Ihr seid bestenfalls die Quartiermeister. Begreift das endlich. Bitte.

Wir sollen vorsorgen? Dann tun wir es endlich. An der Urne und in unserem Umfeld. Bringen wir unseren Lebensraum in Ordnung. Mit Mut für die Zukunft. Noch haben wir die Möglichkeiten. Wir sind reich. Wir haben hervorragende Grundlagen. Aber die wurden alle gestern und vorgestern entwickelt.

Ansonsten schaffen es verknöcherte, ewig-gestrige Kantönligeister und Leerparolen-verbreitende Egopolitiker noch, das ganze Land zu ruinieren.

Max Winiger

Max Winiger ist Kommunikationsberater SW und Mitbegründer des Healthy Ageing Forums Schweiz. Davor war er unter anderem Mitarbeiter von SonntagsBlick, SonntagsZeitung, Bilanz, Weltwoche und Radio DRS sowie Mitglied der Chefredaktion der zweisprachigen Wochenzeitung Biel-Bienne. Er lebt in Zürich.