Wir sparen uns zu Tode

Während in diversen Ländern die Zukunft geplant und Reformen angestossen werden, befasst sich die Schweiz mit dem, was sie am besten kann: Futterneid und Geldgier. Vor allem dringt das «Kern-Gen» der Schweizer wieder in den Vordergrund: Jeder schaut für sich, etwas riskieren sollen die anderen.

46 Milliarden Franken: soviel Gewinn hat also die Schweizerische Nationalbank im letzten Jahr eingefahren, zwei Milliarden durch Negativzinsen. 95 Milliarden Franken: soviel Geld wird voraussichtlich 2020 vererbt, drei Viertel davon sind Beträge unter 100’000 Franken. 2,3 Milliarden Franken: soviel besser haben 24 Kantone Ende 2018 ihre Rechnung abgeschlossen als budgetiert. Die Nettoschuldenquote der Schweiz liegt unter zehn Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP).

Jeder schaut für sich
Super, nicht wahr? Ganz ehrlich, das ist doch genau das, was wir gelernt haben: Sparen, sich nicht verschulden, sparsam leben: so kommen wir weiter. Denkste. Unser heutiger Wohlstand basiert auf dem unternehmerischen und finanzpolitischen Wagemut der letzten Generationen. Aber heute lebt dieser Geist nicht mehr. Wir sparen uns zu Tode. Anstatt über echte Reformen nachzudenken, werden Initiativen lanciert, um den Reichen noch mehr Geld abzuzwacken. Wir diskutieren darüber, warum vererbtes Geld nicht doch höher versteuert werden sollte, denn die Empfänger haben dafür ja nichts geleistet (der Staat aber schon?). Bei der Vorsorge wird der Umwandlungssatz gesenkt, das angesparte Geld wird kaum noch verzinst, trotz Boomjahren an der Börse. In der Politik schaut jeder argwöhnisch auf den anderen. Und jeder Kanton schaut für sich. Keiner gönnt dem anderen einen Franken, dem Bürger schon gar nicht.

Kreative Finanzdirektoren
Die Luzerner Zeitung berichtet im letzten Jahr mit Bewunderung, wie kreativ die Innerschweizer kantonalen Finanzdirektoren Geld verschieben, um Negativzinsen zu vermeiden. Nicht geschrieben wird, dass es ein Skandal ist, wenn Kantone überhaupt für Rückstellungen Negativzinsen bezahlen müssen. Denn letztlich ist dies das Geld der Steuerzahler. Mit welchem Recht werden Negativzinsen auf Geld einkassiert, das zum Beispiel für einen teuren Spitalneubau geplant ist? Mit welchem Recht behält eine Nationalbank zwei Milliarden Franken Negativzinsen bei insgesamt 46 Mrd. Franken Gewinn? Diese zwei Milliarden gehören in die AHV oder in die Pensionskassen und müssen 1:1 an die Bürger weitergegeben werden. Mit welchem Recht sollen Reiche noch mehr Steuern bezahlen? Weil sie reich sind, klar. Sie haben ja in den meisten Fällen auch nichts dafür geleistet. Das Geld lag einfach mal so vor der Haustür.

Die Jungen finanzieren die Renten der Alten. Unfair! Aber 95 Milliarden Erbschaften von den Alten kassieren, das ist dann nicht der Rede wert. Jeder zweite Vermögensfranken in der Schweiz ist vererbt. Und in den allermeisten Fällen entstand dieses Vermögen durch Sparen. Dazu musste aber zuerst Geld verdient werden. Das wurde bereits versteuert.

Ein Hauptgrund für die alle Jahre «überraschenden» Abschlüsse der Gemeinden und Kantone sind unter anderem die Grundstückgewinnsteuern. Davon wird es in den nächsten zehn Jahren nochmals haufenweise in die Gemeindekassen spülen, denn viele betagte Haus- und Wohnungsbesitzer werden ihr Eigentum verkaufen. Die Gemeinden kassieren Steuern zu unveränderten Sätzen. Als ob wir immer noch vier Prozent Zins auf dem Sparbuch hätten.

Die Banken braucht’s nicht mehr
Andererseits wird alles verhindert, damit die Bürger und Steuerzahler im heutigen Zinsuniversum noch etwas haben: die Pensionskassen können aufgrund völlig überholter Einschränkungen nicht richtig investieren. Banken hocken auf ihrem Geld und geben lieber Superreichen Gratis-Hypotheken statt Innovation zu fördern und auch mal etwas zu riskieren. Es muss an dieser Stelle einfach gesagt werden: Wer nicht mindestens 30 Millionen Franken Vermögen hat (das sind im Bankenjargon die «UHNWs», die Ultra High Net Worth Individuals), braucht keine Bank mehr. Eine Bank lebt bei jedem Normalverdiener nur noch von Gebühren für alles Mögliche und kümmert sich keine Sekunde um sein finanzielles Wohl. Das interessiert eine Bank heute schlicht nicht mehr. Sie verdient ja auch nichts mehr an kleinen Vermögen. Das Geschäftsmodell der Banken ist für mindestens 95 Prozent aller Menschen obsolet geworden. Das Allermeiste erledigt heute auch eine App – oder die Post.

Jeder schaut für sich. Und die Politik macht sich vor lauter Angst, etwas Falsches zu riskieren, ins Hemd. Reformen werden vollmundig angekündigt. Umgesetzt wird nichts. Nationale Strategien werden im Scheinwerferlicht der Medien breitschultrig verkündet. Die Kantone setzen nichts um, Weil, das kostet ja dann Geld.

8000 Franken im Monat fürs Altersheim
Und nochmals zu den Alten, zur Vorsorge und zum Lebensende in diesem wunderschönen Land: Wer heute nach der Pensionierung sein Vorsorgegeld bezieht, bezahlt Steuern. Sind Sie verheiratet und leben in Chur, sind das rund 24’000 Franken für einen Bezug von 500’000 Franken. In Lausanne zahlen Sie 57’000 Franken und in Zürich 41’000 Franken. Sollten Sie mehr Geld beziehen, dann fliehen Sie aus dem Kanton Zürich (und aus der Waadt): denn das sind die Steuerhöllen wenn’s um Steuern auf Vorsorgegeldern geht.

Diese Steuern sind unverändert. Die Kantone langen genau gleich zu wie vor Jahren als es noch Zinsen gab für Geld auf der Bank und in der Pensionskasse. Heute müssen Sie hingegen damit rechnen, dass Ihnen die Bank noch Negativzinsen abzieht, wenn Sie das Pensionskassenvermögen beziehen und auf einem Konto deponieren. Sie können ja stattdessen die Rente beziehen. Nur kann heute kaum noch jemand davon leben, der Umwandlungssatz sinkt ja laufend. Und wenn Sie dann zum Beispiel im ach so vorsorglichen Kanton Zürich ins Altersheim müssen, dann ist sowieso fertig. 8000 Franken knöpft Ihnen zum Beispiel das Altersheim in Dübendorf ab. Damit wir uns richtig verstehen: Das ist ein öffentliches Altersheim. 8000 Franken jeden Monat out of pocket! Da sind die Leistungen, welche die Krankenkasse trägt, nicht eingerechnet. Macht rund 100’000 Franken im Jahr. Ihr Lebenspartner lebt noch und Sie möchten ein Doppelzimmer? Macht 16’000 im Monat, bitteschön. Wenn Sie kein Geld mehr haben, aber noch ein Haus besitzen, dann müssen Sie das dann verkaufen. Dachten Sie, clever zu sein und haben Ihr Vermögen kurz vor dem Heimeintritt vererbt, klopft der Gemeindevertreter an die Tür Ihrer Erben und kassiert ab, was möglich ist.

Früher konnte man in der Schweiz langfristig planen, um dann im Alter ausreichend Geld zu haben, anständig leben zu können. Heute müssen Sie in der Schweiz langfristig planen um zu verhindern, dass Ihnen nach der Pensionierung binnen kürzester Zeit und bei Berücksichtigung realistischer Annahmen (Lebenserwartung, Gesundheitszustand, Eigentum, Vermögen, Erben etc.) alles weggenommen wird.

Exit for free
Das waren jetzt viele Zahlen. Aber wenn Sie das nochmals durchlesen dann erkennen auch Sie: Wir driften hier ganz gewaltig in die falsche Richtung. Wir sind vielleicht schon bald das einzige oder eines der wenigen Länder ohne Schulden, wir sind vielleicht die Sparweltmeister. Aber vor allem sind wir schon bald das Land, wo eine verknöcherte, geizige und gleichzeitig gierige Neid-Kultur dafür sorgt, dass alles verdampft, was wir mal aufgebaut haben. Wir sind dermassen fett und träge geworden, dass wir gar nicht mehr wissen, wie man Innovation schreibt. Wir haben zwar die teuersten Randsteine entlang unserer laufend frisch asphaltierten Strassen, die vermutlich teuersten Tramstationen weltweit (Stadt Zürich), am meisten Spitäler pro Kopf der Einwohner, einen nicht verhandelbaren Föderalismus mit 26 autarken Kantonen: vor allem aber haben wir schon sehr bald eine Million mehr Menschen in Rente, die sich fragen müssen, warum sie in diesem Land in den letzten fünfzig Jahren alles gegeben und den heutigen Wohlstand mitgeschaffen haben. In einem Land, wo das Wort «Vorsorge» zum Witz mutiert und alt werden für viele nicht mehr lustig ist. Denn dummerweise sorgt unser teures Gesundheitssystem auch noch dafür, dass wir immer länger leben.

Aber zum Glück gibt’s Exit. Ich warte darauf, dass die Mitgliedschaft ab 70 gratis angeboten wird. «Mit freundlicher Unterstützung und bestem Dank. Ihre Schweiz». Das wäre doch mal was Innovatives.

Max Winiger

Max Winiger ist Kommunikationsberater SW und Mitbegründer des Healthy Ageing Forums Schweiz. Davor war er unter anderem Mitarbeiter von SonntagsBlick, SonntagsZeitung, Bilanz, Weltwoche und Radio DRS sowie Mitglied der Chefredaktion der zweisprachigen Wochenzeitung Biel-Bienne. Er lebt in Zürich.